Mittwoch, 18. Oktober 2006
Er
Ich schlich mich vorsichtig heran. Oh, ja ich war sehr leise. Niemand würde mich bemerken. Ich ließ meinen Blick über die Wände gleiten, über die Möbel, schaute aus dem Fenster, ohne die Aussicht wahrzunehmen. Leise, ganz leise.
Niemand sollte die heimlichen Blicke bemerken, niemand. Niemand sollte mein Herz klopfen hören, pochte es doch gegen meine Rippen, als wollte es sie zersprengen. Doch leise, ganz leise. Kein verräterisches Zeichen geben, keine Zugeständnisse für mein Gefühl machen. Gleichmäßig atmen, seine Anwesenheit im Verborgenen genießen. Da, plötzlich, ein überschäumendes Gefühl der Lebensfreude. Ich muß es aufsaugen, ich muß. Er ist hier, ich bin hier. Er ist mir nahe. Doch halt! Nicht so schnell ! Ich darf mich nicht verlieren. Ich muß die Kontrolle behalten. Ich kann mich der Hoffnung nicht hingeben, sie würde mir ins Gesicht lachen.
Doch darf ich ihn nicht begehren ? Leise, ganz leise, gut versteckt unter der Oberfläche meiner Gleichgültigkeit, hinter der gespielten Fassade. >Oh, nein, er sieht eigentlich nicht gerade besonders gut aus, trotzdem ist er irgendwie ziemlich cool drauf, sehr interessant, sehr lustig, wirklich ein Typ für sich.< Sehr anziehend. Sehr faszinierend. Aber nein, das würde ich niemals zugeben.
Ich habe im chinesischen Horoskop nachgeschaut. Er könnte ein Tiger sein. Ein Tiger !
Ich, der Drache und der Tiger, welch wunderbares Gespann. Oh, ja, es steht in den Sternen, daß wir zusammenpassen würden. Wie schön wäre es...Doch hole ich schon selbst meinen Kopf wieder aus den Wolken. Ich würde verletzt werden, ich weiß es. Vielleicht würde er es noch nicht mal absichtlich tun, nicht mit Willen, aber er würde es tun. Ich meine nicht, das wir zusammen kämen, und er mich dann schlecht behandeln würde oder mich verlassen oder betrügen, nein, das meine ich nicht. Das würde ich vielleicht sogar in Kauf nehmen.
Aber nein, es würde viel einfacher geschehen, und viel früher. Er würde mich mit einem Blick verletzen, mit einem überraschten Gesichtsausdruck, einem bedauernden Lächeln, einem Versuch mir zu erklären, daß er nicht genauso empfindet. Und damit würde er mich tiefer treffen.
So sinke ich zurück aus den Wolken. Je höher man fliegt, desto tiefer fällt man.
Doch leise, ganz leise, pirsche ich mich heran. Nehme seinen Anblick in meinen Geist auf. Merke mir seine Augen, seine Bewegungen. Speichere seine Stimme und Wörter in meinem Gedächtnis. Lasse mich von der Stimmung tragen. Fühle seine Anwesenheit.
Leise, ganz leise, genieße ich den Augenblick.

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